Ehrenamtliche Hilfe Heidelberg  -  Volunteering Heidelberg
Selbsthilfe in der RNZ
 

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RNZ-Selbsthilfeserie von Kirsten Baumbusch (ab 31.3.2000)


Frau Kirsten Baumbusch
veröffentlicht in der Rhein-Neckar-Zeitung Heidelberg in loser Folge Beiträge. Diese Artikel sind in zweierlei Hinsicht interessant:
Zum einen werden Krankheiten bzw. Problemkreise an konkreten Beispielen beschrieben. 
Zum anderen informiert Frau Baumbusch über die ehrenamtlichen Selbsthilfe-Aktionen, die von den Betroffenen bzw. deren Angehörigen
und Freunden in die Wege geleitet werden. 

hilfe-hd.de dankt Frau Baumbusch für die Bereitschaft, diese Beiträge für Sie auf der Website archivieren zu dürfen.

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Borderline-Patienten: Störung zwischen Neurose und Psychose (9.12.2000)

Zuhause bei Dr. Jekyll und Mister Hyde
Selbsthilfegruppe für Angehörige von Borderline-Patienten - Störung zwischen Neurose und Psychose

Ab und zu hatte Sandro Bernhard (Namen geändert) das Gefühl nicht mit seiner Freundin Sabine zusammen zu sein, sondern mit Dr. Jekyll und Mister Hyde. Eben noch war die junge Frau das zärtlichste Wesen, das man sich vorstellen kann, ein paar Sekunden später schon attakiert sie ihren Partner voller Hass, beschimpft ihn und schlägt um sich. "Ich hatte das Gefühl, dass sie die Grenze zwischen mir und sich nicht ziehen konnte", erklärt er. "Es gab nur ihre Realität und ihre Wahrheit".

Borderlinestörung heißt diese Krankheit an der Grenzlinie (Borderline) zwischen Neurose und Psychose. Die Betroffenen neigen dazu, Impulse ohne Berücksichtigung von Konsequenzen auszuagieren und leiden unter häufigen Stimmungsschwankungen. "Manchmal hatte ich das Gefühl, sie will alles zerstören", beschreibt Bernhard. Gleichzeitig jedoch spürte er, dass diese aggressive Wut in allererster Linie ihr selber galt. Ein in frühster Kindheit tief verletztes Wesen, mit einem bis in die Grundfeste erschütterten Vertrauen zum Vorschein zu kommen darunter durchzuscheinen. Furchtbar für die Kranken und fast ebenso schlimm für die Angehörigen. Dazu kam ein beträchtlicher Realitätsverlust. Ein gestörtes Selbstbild ist charakteristisch für diese Krankheit, die als eine der am verbreitetsten psychischen Störungen überhaupt gilt. Häufig ist dabei auch die Neigung zu intensiven, aber unbeständigen zwischenmenschlichen Beziehungen, die immer wieder zu tiefen Gefühlskrisen führt und mit Selbstverletzung und Suizidversuchen einher gehen kann. Ein chronische Gefühl von Leere und Langeweile, das beschreiben viele "Borderliner". Dazu kommt häufig auch ein Suchtverhalten wie Alkohol- oder Drogenmissbruch, Spielsucht und Ess-Störungen.

Als Sandro Bernhard im Sommer nicht mehr weiter wusste, entschloss er sich Leidensgenossen zu suchen. "Ich war so verletzt und verstand die Welt nicht mehr", schildert er im RNZ-Gespräch seinen Zustand. Seither trifft sich im Heidelberger Selbsthilfebüro, Alte Eppelheimer Straße 38, an jedem dritten Donnerstag im Monat, um 18 Uhr eine Gruppe . Anmeldung und Information ist unter Telefon 06221/189042 möglich.

Erfahrungen austauschen, sich gegenseitig Mut machen und Weg suchen, um mit dem Borderline-Syndrom umzugehen, das ist erklärtes Ziel. Das Leben in Angst, das kennen alle von ihnen. Weiß doch niemand, was der Betroffene das nächste Mal zum Anlass nehmen wird, um "Auszuflippen", sogar mitten in der Nacht sind die Angehörigen vor den Attacken nicht sicher. Schlimmes erlebt haben fast alle, das reicht von verbalen Ausfällen bis hin zur brutalen körperlichen Gewalt. Bei einem Mitglied der Gruppe war der Bruder sogar eines Tages so außer sich, dass er das Haus anzündete.

Oft bemerken die Arbeitskollegen oder das weitere Umfeld gar nichts von der Krankheit. Äußert sie sich doch fast ausschließlich im engen Bereich der Angehörigen und Partner. "Es ist ein Teufelskreis von Selbsthass und Aggression", beschreibt Sandro Bernhard. Manchmal hatte er den Eindruck, seine an Ess-Brech-Sucht leidende Freundin könne nichts Lebendiges ertragen, weder als Nahrungsmittel noch in Beziehungen. Als Ursachen kommen neben Entwicklungsstörungen in den ersten drei Jahren auch Misshandlung, emotionale Vernachlässigung und traumatische Erlebnisse in Frage. Die Chance auf eine völlige Heilung ist eher gering. Derzeit gehen Experten davon aus, dass bei rund zehn Prozent die Störung im Laufe der Zeit so weit zurückgeht, dass die Diagnose Borderline nicht mehr zutrifft.

Keine rosigen Aussichten also für die Angehörigen. Trotzdem war die Selbsthilfegruppe für Sandro Bernhard ungemein hilfreich: "Zu wissen, ich bin nicht allein, das war schon viel".

Kirsten Baumbusch, RNZ vom 9./10. Dezember 2000

 

 

 

Alkoholabhängige Männer: Aushalten bis zur Selbstaufgabe ist der falsche Weg (5.9.2000)
Förderverein "Frauen helfen Frauen" will den Frauen alkoholabhängiger Menschen Mut machen

 

Es war ein langer Weg, den Waltraud Strohalm und ihre Leidensgenossinnen von „Frauen helfen Frauen" zurückgelegt haben. Als Partnerinnen alkoholabhängiger Männer gab es für sie allzu lange nur eins: Aushalten und abpuffern bis zur Selbstaufgabe. „Das war der falsche Weg", weiß die zierliche Frau heute. Viel früher hätte sie erkennen müssen, dass sie längst selbst Hilfe brauchte.

„Der Abhängige", so weiß sie, „hat immer zwei Problemlöser: Den Alkohol und seine Frau". Der Abstand von fast zehn Jahren ermöglicht ihr heute diesen Scharfblick auf die Problematik von damals. Doch Waltraud Strohalm möchte die Erkenntnis nicht für sich behalten. Vielmehr hat sich aus der Angehörigen-Gruppe der Suchtklinik, in der ihr Mann vor zehn Jahren war, der Förderkreis „Frauen helfen Frauen" herauskristallisiert.

Der Verein wiederum hat sich nun vorgenommen, Frauen mit einem alkoholabhängigen Partner möglichst frühzeitig zu erreichen, sie zu unterstützen und die Bildung von Selbsthilfegruppen anzuregen. Die Kontaktgruppe trifft sich immer am ersten Dienstag im Monat um 19:30 Uhr im Lutherhaus Schwetzingen und ist unter Telefon 0 62 02 / 1 32 98 zu erreichen.

„Wir alle haben die Erfahrung gemacht, dass wir trotz größter Mühe unserem alkoholabhängigen Partner nicht helfen konnten", beschreibt Waltraud Strohalm ihre Situation Mitte der 80er Jahre. Erst im Austausch mit anderen betroffenen Frauen erlebte sie Offenheit und Verständnis für ihre Lage.

„Die Frauen verdoppeln ihre Fürsorge, je tiefer der Mann sinkt", hat Karl Lask, der frühere Leiter der Suchtklinik Haus Burgwald erkannt. Weil sie nur noch daran denken, wie sie ihrem Partner helfen können, geben sie ihre eigenen Interessen auf. Nicht selten spielen hier auch alte Erziehungsmuster und Rollenklischees hinein, dass sich Frauen nur dann wertvoll und liebenswürdig fühlen, wenn sie selbstlos für andere da sind. Ihre Lektion in Nächstenliebe haben sie lange schon intus, dass auch Selbstschutz dringend nötig sein könnte, kommt ihnen oft nicht in den Sinn.

Sie befinden sich in einem fatalen Teufelskreis. Ihrem Partner nehmen sie immer mehr ab, laden sich selbst immer mehr auf, verheimlichen das Trinken gegenüber der Außenwelt, werden selbst krank und verzweifeln am Ende, weil all ihre Sorge doch nichts genützt hat und der Abhängige all seine Beteuerungen und Versprechungen doch nicht hält. Das Selbstwertgefühl ist am Boden. „Wenn er doch alles hat, warum braucht er dann den Alkohol", hat sich auch Waltraud Strohalm immer wieder frustriert gefragt.

Auch bei dem betroffenen Mann wendet sich nichts zum Besseren. Er verliert die Fähigkeit, kontrolliert zu trinken, Alkohol beherrscht sein ganzes Leben, es kommt zu Aggressionen, die sozialen Folgen werden immer gravierender, Schulden drücken und der Verfall der Persönlichkeit wird immer offensichtlicher.

Lask stellt nun eine relativ simple These auf: Nur wenn die Frauen ihr Verhalten ändern und mehr an sich denken, werden ihre süchtigen Partner wachgerüttelt. Spätestens dann, wenn der Alkoholismus sich massiv auf das Leben der Familie auszuwirken beginnt, sollten sie erkennen, dass auch sie Unterstützung brauchen. Nur dann wird auch der Mann gezwungen, sich mit seinem Problem auseinander zu setzen, denn zumeist will er seine Partnerin nicht verlieren.

„Wenn die Frau ein Stück weit wegrückt, kann er am ehesten spüren, wo er steht", summiert Waltraud Strohalm ihre Erfahrungen, „das heißt nicht, dass wir an die Frauen appellieren, ihre Männer zu verlassen oder sie fallen zu lassen". Doch, das haben die Frauen in der Gruppe gelernt, auch sie brauchen einen Platz, wo sie über sich und ihre Schwierigkeiten sprechen und langsam Lebensfreude zurückgewinnen können.

Erschwert wird ihre Lage oft dadurch, dass Alkoholismus immer noch als Schande gilt und mit einem Tabu belegt ist. Dabei, so weiß Waltraud Strohalm, sterben in der Bundesrepublik Jahr und Jahr 40000 Menschen an den Folgen von Alkoholmissbrauch. 2,5 Millionen Menschen in Deutschland gelten als Abhängige. Betroffen sind dabei nie nur die Trinker allein. Auch für die Kinder bedeutet Alkoholismus eine schwere Hypothek. Während die Jungen oft dazu neigen, später das Suchtverhalten des Vaters zu übernehmen, entwickeln die Mädchen häufig eine ähnliche „Sucht gebraucht zu werden" wie ihre Mütter. „Auch als Vorbild für unsere Töchter haben wir eine Verantwortung", appelliert sie.

Sie, die selbst seit 20 Jahren keinen Tropfen Alkohol anrührt und deren Mann seit einem Jahrzehnt abstinent ist, möchte anderen Frauen Mut machen, Grenzen zu setzen. „Das bedeutet nicht, dass sie ihren Mann nicht lieben", schärft sie den verzweifelten Leidensgenosseninnen ein. Sie verhehlt nicht, dass es Fälle gibt, wo ein Mann, wenn eine Frau sich erst Hilfe gesucht hat, erst recht im Selbstmitleid versinkt und noch mehr trinkt.

„Dann", so weiß sie, „braucht die Frau erst recht Rückendeckung". Allerdings habe sie dann ohnehin eine schwere Entscheidung zu treffen. Waltraud Strohalm und ihr Ehemann haben es geschafft. „Es war wert, sich durchzukämpfen", meint sie im RNZ-Gespräch. Auch ihre Partnerschaft ist gesundet. „Wir können heute über viele Dinge sprechen, über die wir früher nie gesprochen hätten". Aber auch Waltraud Strohalm hat sich verändert. „Ich halte nicht mehr alles unter Decke und sage viel eher, wie ich mich fühle".

Kirsten Baumbusch

 

 

Alzheimer: Liebe und Geborgenheit sind die beste Medizin (9.9.2000)
Angehörige von Alzheimer-Patienten - Rolf Esser pflegt seine Frau seit 15 Jahren

 

Die schillernd-blaue Libelle umschwirrt den Gartenteich. Sacht streicht der warme Wind durch die Büsche des verwunschenen Gartens. Ein Planschbecken und ein bunter Ball zeugen davon, dass hier ein beliebter Treffpunkt für die Nachbarskinder ist. Kaum jemand aber würde glauben, dass in dieser Idylle auch eine schwerstkranke Alzheimer-Patientin zuhause ist.

Obwohl in der Bundesrepublik mindestens 800 000 Menschen an der Demenz-Erkrankung leiden, sind sie im Bild der Öffentlichkeit noch immer kaum präsent. „Viele schämen sich einfach", weiß Rolf Esser. Der ehemalige Postbeamte pflegt seine kranke Frau seit mehr als zehn Jahren und hat dabei eines klar erkannt: „Liebe und Geborgenheit sind die beste Medizin". Und dazu gehört auch der schöne Garten.

Und wenn er selbst damit überfordert war, dass seine geliebte Partnerin ihm in eine unbekannte Welt entglitt? „Eine Selbsthilfegruppe, das bringt viel", sagt der Pensionär. Das Gespräch mit Leidensgefährten ist ungemein wichtig für die Angehörigen von Alzheimer-Patienten, denn durch die Krankheit blättert der Bekanntenkreis meistens sehr schnell ab, und die Partner der Kranken sind mit ihrer Pflege weitgehend allein gelassen.

Und dann gibt es so verzweifelte Situationen wie die, als Essers Frau Irmgard plötzlich begann, schreiend die Schränke der Wohnung auszuräumen. Sich da am Telefon mit jemandem austauschen zu können, der eine solche Situation schon einmal erlebt hat, dafür ist der gebürtige Wieblinger noch heute dankbar. Und heute wiederum hilft er anderen, mit den Klippen der Pflegeversicherung oder Versagensängsten vor der großen Aufgabe fertig zu werden. Die Heidelberger Gruppe trifft sich jeden zweiten Dienstag von 20 bis 22 Uhr im Gemeindehaus der Friedenskirche an der Tiefburg in Handschuhsheim.

Informationen, auch zur Gründung einer Selbsthilfegruppe, gibt es über das Selbsthilfebüro, Telefon 0 62 21/18 42 90 oder bei Rolf Esser unter 0 62 24/7 15 72.

Reagans Erkrankung ...

Begonnen hat alles vor anderthalb Jahrzehnten. Beim Zählerablesen bemerkte Rolf Esser, dass seine Frau, mit der er seit vielen Jahren eine „tolle Ehe" führte und gemeinsam die halbe Welt im Wohnmobil bereist hatte, immer vergesslicher wurde.

Anfangs glaubte Esser, dass das Phänomen möglicherweise mit der Aufgabe ihrer Erwerbstätigkeit als Telefonistin zusammenhängen könnte. Doch bald wurde es immer schlimmer. Irmgard Esser konnte nicht mehr allein sein, ihre Handarbeiten klappten nicht mehr, und auch bei der Hausarbeit lief nichts mehr zusammen.

„Dieser Scheiß-Zucker taugt nicht, der geliert ja nicht", schimpfte sie einmal am Herd stehend und Marmelade kochend, und bemerkte nicht, dass sie die Herdplatte gleich nach dem Einschalten auch wieder ausschaltete. Als ihr Mann ihr das sagte, gab es einen schlimmen Streit. Solches sture Beharren darauf, Recht zu haben, kennen fast alle Angehörigen dieser Patienten. Dagegenhalten und argumentieren hilft überhaupt nichts, musste Esser lernen, liebevoll die Situation umgehen schon eher. „Wir verstehen mit unserem Verstand nicht, dass der andere uns nicht verstehen kann", bringt er das furchtbare Dilemma auf den Punkt.

Für die Essers gab es die schreckliche Gewissheit dann 1992. „Demenz vom Typus Alzheimer" lautete die Diagnose im Mannheimer Zentralinstitut für Seelische Gesundheit, und für Rolf Esser war klar, „meine Frau wird nie mehr so sein wie früher". Die Krankheit anzunehmen, so sagt er im Rückblick, sei für alle der größte Schritt, und er sei wie alle erst einmal in ein großes Loch gefallen. Schließlich besorgte sich der tatkräftige Optimist aber Literatur, machte sich bei Ärzten kundig und schloss sich Selbstgruppen an.

Obwohl er wusste, dass er sich so schnell nicht unterkriegen lassen würde, waren die nächsten Jahre hart. Außer Beruhigungsmitteln hatte die Medizin kaum etwas anzubieten. Das hat sich zwischenzeitlich ein bisschen gebessert. Nun gibt es zumindest Medikamente, die den Verfall des Geistes für ein bis zwei Jahre hinauszögern können. Die Forschung läuft auf vollen Touren „Für die Alzheimer-Patienten", so sagt Rolf Esser, „war es ein Glück, dass Ronald Reagan daran erkrankte". Erst dann brach das Tabu. Zunächst wachte Amerika auf und dann auch Europa.

Still sitzt sie in ihrem Rollstuhl, die 70jährige Irmgard Esser mit den weißen, kurzen Haaren. Sprechen kann sie schon lange nicht mehr, ihre blauen Augen wandern unruhig umher, ihr ehemals so quicklebendiger Geist scheint irgendwo ganz weit weg zu sein. „Sie leben in ihrer eigenen Welt", hat Rolf Esser in den vergangenen 15 Jahren gelernt, „und da geht alles nach dem Gefühl".

Und tatsächlich, es ist fast spürbar, wie sich die zarte Frau entkrampft, wenn ihr Mann sie freundlich anspricht oder ihr kurz über den Arm streichelt. Andererseits kann die Kranke aber auch der Anblick eines dunklen Tannenwaldes oder einer steilen Stufe in wilde Ängste versetzen. Mit die größte Furcht empfinden Alzheimer-Patienten nach der Erfahrung von Rolf Esser vor dem Alleinsein. Deshalb unternimmt er so viel wie möglich mit seiner Frau zusammen. Bis vor wenigen Jahren waren die beiden jeden Tag etliche Kilometer zu Fuß zwischen Leimen und Nußloch unterwegs. Ob Einkaufen, Restaurant oder Vereinsfeste, sogar ein gemeinsamer Urlaub ist möglich, wenn der Rahmen stimmt und für die Betreuung gesorgt ist. Einmal war Rolf Esser sogar mit zwei Leidensgefährtinnen und deren Partnern in Todtnauberg richtig in Ferien.

...... brach das Tabu

Vielsagende Blicke, wenn ein Kranker unverständlich brabbelt oder Hilfe beim Trinken braucht, nimmt er nicht einfach hin, sondern klärt die Leute dann in seiner freundlichen Art in wenigen Sätzen auf. „Eine dumme Antwort habe ich noch nie erhalten", freut er sich. Ob er die Pflege seiner Frau bis ganz zum Schluss durchhält, kann auch Rolf Esser noch nicht sagen, obwohl er es fest vorhat. Dass nicht jeder die Kraft, den Optimismus und die körperliche Konstitution hat, diese schwere Aufgabe anzunehmen, weiß Rolf Esser. Manchmal, so räumt er ein, ist ein Heimaufenthalt dann die einzige Möglichkeit.

„Wir lachen noch zusammen", sagt er, wenn jemand ihn skeptisch fragt, was er denn noch von dieser einseitigen Beziehung habe. Dann zeigt er noch Fotos aus den letzten Jahren, die sie beide in inniger Fröhlichkeit zeigen und den Betrachter kaum etwas von der schlimmen Krankheit ahnen lassen. Und leise fügt er an: „Ich weiß, sie hätte das Gleiche auch für mich gemacht".

Kirsten Baumbusch

 

 

 

C-Zellenkarzinom: Leben mit tückischer Krankheit (15.9.2000)
Gerhard Fellhauser leidet an einer seltenen Krankheit - 
Über die Selbsthilfe zum Experten in eigener Sache

„Bei vielen Tumorpatienten geht es nur um Tod oder Leben, bei uns eher darum, wie gestalte ich den Rest meines Lebens". Wer den 34jährigen Familienvater German Fellhauer so hört, ist beeindruckt von seinem Mut. Seit 1994 weiß er, dass er nicht an einem harmlosen Kropf, sondern an dem tückischen C-Zell-Karzinom leidet. Zu dem Zeitpunkt war er 27 Jahre alt, verheiratet, hatte zwei kleine Töchter und vor fünf Monaten ein kleines Haus gekauft.

Die Zeit nach der Operation, bisher die einzige Therapiemethode dieses Karzinoms, verlief hektisch. Nach dem Schock und weiteren drei Operationen binnen eines Jahres versucht er mit noch mehr Arbeit alles zu verdrängen und daneben auch noch möglichst viel Informationen über die seltene Krankheit, von der es bundesweit nur 1600 Betroffene gibt, zu sammeln.

Über die Selbsthilfe ...

Schnell mauserte er sich zum Experten in eigener Sache, merkte aber auch, dass ihm mentale Unterstützung und der Austausch mit anderen fehlte. Im Herbst 1995 entschließt er sich dann, an einer Selbsthilfegruppe „Junger Tumorpatienten" teilzunehmen, auf die er durch einen Aushang im Deutschen Krebsforschungszentrum aufmerksam geworden war. Fast zeitgleich gesellte sich eine andere Frau hinzu, die tatsächlich die gleiche Erkrankung hatte wie er selbst. Die Erfahrung in der Gruppe wertet er heute im Rückblick als ausgesprochen positiv. Doch nach einiger Zeit stellte sich heraus, dass die Probleme der C-Zell-Karzinom-Patienten sich doch von denen der anderen gewaltig unterschieden. Zum einen wirken die „klassischen Therapien" anderer Krebserkrankungen wie Chemo oder Bestrahlung hier nicht, zum anderen wächst der Tumor nur ganz langsam. Bei dem C-Zell-Karzinom sind nicht die Schilddrüsenzellen selbst, sondern die in der Schilddrüse eingebetteten C-Zellen krankhaft verändert. Dabei kommt es zu einer Überfunktion der C-Zellen, die sich im Calcitonin, dem wichtigsten der von ihnen produzierten Hormone, messen lässt. Ein zu hoher Spiegel des Calcitonin ist nicht schädlich und wird daher auch selten entdeckt. Das einzig wirklich typische Symptom sind starke Durchfälle, die häufig fehlinterpretiert werden.

Alle weiteren Symptome sind im Prinzip mit denen anderer Schilddrüsen-Karzinomen identisch. Das heißt Vergrößerung eines oder beider Schilddrüsenlappen, Bildung von so genannten kalten Knoten in der Schilddrüse, eventuell Druck auf den Kehlkopf beim Sprechen. Diagnostiziert wird das Karzinom in der Regel durch Punktion oder durch eine Schilddrüsenoperation.

Bei der Vorbereitung für seine vierte Operation saß Fellhauer dann bei seinem Heidelberger Endokrinologen, der auch Spezialist für das Karzinom ist, und entdeckte dort eine Frau mit den gleichen auffälligen Narben. Er sprach sie einfach an, steckte ihr die Adresse zu und fragte, ob sie nicht Lust hätte zu schreiben. Ein paar Tage später kam Post aus der Eifel. Bald entsteht der Wunsch, eine eigene Selbsthilfegruppe ins Leben zu rufen. Mit Hilfe von Ärzten und des Heidelberger Selbsthilfebüros kommt die Sache ins Laufen, der erste Schritt zum eingetragenen Verein „C-Zell-Karzinom" ist gemacht. „Es kamen sehr ernste, verzweifelte, aber auch sehr hoffnungsvolle und lustige Beiträge", resümiert German Fellhauer das erste Meeting, zu dem sich Teilnehmer aus der ganzen Bundesrepublik trafen. Danach wurden Erfahrungen ausgetauscht über Untersuchungsmethoden, Operationen, Medikamente und Alternativtherapien.

Vielen, die am Anfang standen, machte es Mut, dass andere schon mehr als zehn Jahre mit ihrer Erkrankung leben und Hoffnung hegten, „auch noch das Rentenalter zu erreichen, sogar noch ein paar Jahre Rente zu beziehen". Nicht automatisch verstehen die „Frischlinge" nämlich die mysteriösen Befunde und Operationsprotokolle zu deuten. Und da kann es schon beruhigend sein, wenn ein Mensch mit einem Tumormarker, der ein Vielfaches des eigenen beträgt, noch munter und quicklebendig neben einem sitzt. Die meisten Mitglieder der Selbsthilfegruppe haben eine jahrelange Odyssee zum richtigen Spezialisten und der richtigen Diagnose hinter sich. Um das Wissen der Ärzte ist es nicht zum Besten bestellt, mussten viele von ihnen erfahren. "Wenn schon Budget", so formuliert Fellhauer, „dann sollte das auch an der Fortbildungswilligkeit der Mediziner orientiert sein".

Schwierig gestaltete es sich in der Selbsthilfegruppe, psychische Probleme aufs Tapet zu bringen. „Und das, obwohl fast alle Teilnehmer als schulmedizinisch unheilbar gelten", wundert sich Fellhauer.

Erklärtes Ziel der Gruppe, die am besten über seine Telefonnummer 0 62 01/4 57 49 zu erreichen ist, ist es, möglichst viele Betroffene so früh wie möglich zu erreichen. „Wir wissen aus eigener Erfahrung, dass wir da am ehesten jemanden zum Reden gebraucht hätten", sagt er. „Wir wollen uns gegenseitig Mut machen, unsere Krankheit zu verarbeiten und nicht zu verdrängen".

... zum Experten in eigener Sache

Die Schwierigkeiten der Betroffenen sind vielfältig genug. „Mit 34 Jahren in Rente zu gehen, das fällt einem nicht so leicht", berichtet Fellhauer von seiner Situation. Wenn die Betroffenen erst einmal als Schwerbeschädigte gelten, dann ist ein Jobwechsel für sie nahezu unmöglich, obwohl sie sich noch fit fühlen. Die Perspektivlosigkeit macht vielen Patienten denn auch am meisten zu schaffen, auch hier kann die Gruppe Unterstützung bieten. Erschwerend kommt für viele noch hinzu, dass das Karzinom auch eine erbliche Variante hat. Ist das der Fall raten die Ärzte dazu, den Kindern schon im Vorschulalter die Schilddrüse prophylaktisch zu entfernen.

German Fellhauer hat sich in letzter Zeit noch auf ein neues Arbeitsgebiet gestürzt. Ihm ist ein Dorn im Auge, dass in Deutschland neue Behandlungswege unheimlich komplizierte Verfahren hinter sich bringen müssen, bevor sie am Patienten erprobt werden können. „Andere Länder haben viel vernünftigere Regelungen", ärgert er sich und plant eine „Postdemo" in Richtung Gesundheitsministerium. Er findet gerade bei solchen unheilbaren Krankheiten sollten die Patienten, wenn sie um ihre Lage, um die Risiken und Chancen wissen, selbstverantwortlich entscheiden können.

Kirsten Baumbusch

 

 

 

 

Messies: Die verzweifelte Suche nach dem roten Faden (8.4.2000)
Messies drohen in Unordnung zu versinken und bekommen ihr Leben nicht in den Griff

Wer kennt sie nicht, die Chaoten unter uns? Ihre Schreibtische sehen aus, als hätten Bomben eingeschlagen, in ihren Wohnungen stapelt sich das Papier, und auch sonst haben sie riesige Probleme, ihr Leben in den Griff zu bekommen. Der Grad zwischen „normaler" Unordentlichkeit und dem, was neudeutsch „Messies" heißt, ist schmal. Und doch ist das Problem, im selbst angesammelten Müll fast zu ersticken, weit verbreitet. In Heidelberg hat sich nun eine Selbsthilfegruppe gegründet, die sich jeden Donnerstag um 20 Uhr im Selbsthilfebüro, Alte Eppelheimer Straße 38, trifft. Informationen gibt es unter Telefon 0 62 21/18 42 90.

Normale Unordentlichkeit hat dabei mit der „Krankheit" im engeren Sinn ungefähr genauso wenig zu tun, wie gelegentliche Niedergeschlagenheit mit echter Depression. Das Sammeln und Horten und das Gefühl der Lähmung vor den Anforderungen des Alltags, kann durchaus den Charakter einer Zwangs- oder Angsterkrankung annehmen.

„Wenn der Wäscheberg zum Mount Everest wird", so beschreiben die Anonymen Messies, von denen es in den Vereinigten Staaten zwischenzeitlich 20 000 gibt, ihr Problem. Auch in Deutschland schließen sich immer mehr Männer und Frauen, die in Chaos und Unordnung zu versinken drohen, zusammen.

Begründerin der erste Selbsthilfegruppe war 1981 die Amerikanerin Sandra Felton. Sie hatte 23 Jahre lang für Unordnung und Chaos gesorgt, bis sie es endlich schaffte, die Ärmel hochzukrempeln. Der absolute Tiefpunkt war für sie erreicht, als sie wochenlang nicht merkte, dass das Abflussrohr an ihrem Küchenbecken leckte. Denn im Einbauschrank darunter stapelten sich alte Zeitungen und Zeitschriften. Die zweifache Mutter entdeckte die Bescherung erst, als ihr der Boden unter den Füßen wegzufaulen drohte.

„Messies" leitet sich vom englischen Wort „Mess" für Unordnung, Wirrwarr und Schwierigkeiten ab. „Messies haben Probleme, ihren Alltag zu organisieren. Sie bewahren beispielsweise für den Fall aller Fälle alles Mögliche auf, schaffen es an. Sie haben Schwierigkeiten aufzuräumen und müssen ständig im Chaos leben", so definiert sich die Messies-Selbsthilfe im Internet.

Dabei sind die Betroffenen meist optimistische, vielseitige und kreative Menschen, oft sind sie beruflich sehr erfolgreich. Doch lässt ihr Chaos davon nur wenig übrig, denn sie können nichts wegwerfen, werden nie fertig und haben nie Zeit. Dazu kommt die Lähmung, selbst bei wichtigen Angelegenheiten nicht handeln zu können und fast zwangsähnlich Dinge kaufen zu müssen oder alles aufzuheben. Menschen, die sich als Messies bezeichnen, kommen aus allen Gesellschaftsschichten. Männer und Frauen jeden Alters sind vertreten. Gemeinsam ist ihnen allen das ständige Gefühl der Überforderung.

Den meisten Messies ist ihr Zustand keineswegs egal. Ihr Leidensdruck ist enorm, und sie schämen sich. Kaum ein normaler Mensch wird ihre Wohnung je zu sehen bekommen, und das macht natürlich ein normales Sozialleben nahezu unmöglich.

Selbsterkenntnis ist der erste Weg zur Besserung. Das hat auch die 33jährige Sabrina Schäfer (Name geändert) aus Heidelberg erfahren. Deshalb hat sich die Bankangestellte entschlossen, nun ihr Chaos in der Selbsthilfegruppe anzugehen. Wie viele ihrer Leidensgenossinnen kennt auch die lebhafte junge Frau die Kehrseite der Unordnung, die Perfektion. Die Ansprüche, die sie an Sauberkeit und Ordnung stellt, sind im Prinzip so hoch, dass sie schon vor Beginn resigniert „Wenn andere Leute in einer Viertelstunde ein Bad putzen, dann brauche ich einen Tag", beschreibt sie ihre „Pingeligkeit". Sogar ihre Teppichfransen kann sie ungekämmt kaum ertragen. Gar nicht so selten sind Messies nämlich höchst penible Menschen und auch in dementsprechenden Berufen als Buchhalter, technischer Zeichner oder Hauswirtschafterinnen tätig. „Fünfe gerade sein zu lassen", das ist ihnen nicht gegeben, lieber resignieren sie vor dem totalen Chaos.

Sabrina Schäfers Kolleginnen in der Gruppe geht es nicht viel anders. Die eine kann sich zwischen all den Kartons und Papierstapeln kaum noch einen Weg durch ihre Wohnung bahnen, die andere findet zwischen den Stapeln der ungebügelten Kleidungsstücke nichts mehr zum Anziehen und bei der dritten schämen sich die Kinder, Spielkameraden einzuladen, weil es aussieht wie bei „Hempels unterm Sofa".

Da hilft es, in der Gruppe über die persönlichen Schwierigkeiten zu sprechen, sich gegenseitig Mut zu machen, selbst gesteckte Ziele auch in die Tat umzusetzen. „Ich werde ganz ruhig, wenn ich die anderen erzählen höre", sagt Sabrina, auch wenn es am Anfang gar nicht einfach war, die Schwäche einzugestehen. „Ich suche verzweifelt nach dem roten Faden im Leben", analysiert sie das Dilemma. „Raus zu kommen ist ein Marathonlauf", das wissen alle. „Zu sagen, ich will die ganze Wohnung aufzuräumen, ist illusorisch", weiß Sabrina, dafür reicht die Kraft nie. Sie hat sich nun vorgenommen, die Klamotten, die ihre Mutter ihr gewaschen hat, auf das Bett zu legen, so dass sie nicht schlafen kann, bis die Kleidung in den Schrank geräumt ist. Sonst, so kennt sie sich, schiebt sie den Berg ewig vor sich her. "Stück für Stück den Haushalt zu entrümpeln", das ist die einzigen Methode, die bislang Erfolg verspricht. Helfen kann die oft leidgeprüfte Umgebung nur wenig, denn Druck auszuüben ist nahezu hoffnungslos. „Es ist sinnvoll auf Selbsthilfegruppen hinzuweisen, um dem Problem das Gefühl der Einzigartigkeit zu nehmen", ist eigentlich schon der einzige Tipp. Rat und Hilfe bieten und ruhender Pol sein, ohne Vorschriften zu machen, das ist das Motto der ungemein schwierige Gradwanderung.

Kirsten Baumbusch

 

 

 

 

Parkinson: Der Krankheit so viel wie irgend möglich abtrotzen (2.9.2000)
Diese Krankheit ist immer noch unheilbar, trotzdem können die Patienten einiges tun

Papst Johannes Paul II. ist wohl de bekannteste Parkinson-Patient der Welt. Auch in Heidelberg und der Region leiden etliche Menschen an dieser tückischen Krankheit. Einige von ihnen haben sich in einer Selbsthilfegruppe zusammengschlossen, um sich gegenseitig zu stützen.


„Mit dem stimmt was nicht", da waren sich Frau und Schwiegertochter von Gisbert Müller (Name von der Redaktion geändert) einig. Der 67jährige Elektroingenieur schien die Füße beim Gehen kaum noch zu heben und schlurfte fürchterlich. Auch seine ganze Körperhaltung hatte sich verändert, der ehemals so sportliche Schwetzinger bewegte sich nach vorne gebeugt wie ein Greis. Seine Schrift wurde immer undeutlicher, die Hand zitterte, wenn er etwas vom Regal holen wollte, seine Mimik wirkte sehr starr.

„Als ich die Diagnose Parkinson hörte, war ich wie vom Donner gerührt", erinnert er sich an den Dezember 1997. Gisbert Müller sah sich im Geiste schon von Krämpfen geschüttelt vor dem Fernsehsessel versauern. Nie mehr auf den Kirschbaum steigen und nie mehr Wasserski fahren, schien das Urteil zu lauten.

„Stellen Sie sich vor, wie es ist, wenn Sie aufstehen wollen und der Körper nicht mitmacht. Oder wenn Sie eine Tasse zum Mund führen und die haltende Hand nicht unter Kontrolle zu bringen ist", so beschreibt Walter Rohrmann die Lebensrealität viele seiner Schützlinge. Rund 80 Betroffene haben sich in Heidelberg in der Selbsthilfegruppe zusammengeschlossen. Sie treffen sich jeden zweiten Dienstag im Monat um 14:30 Uhr, in der AOK-Verwaltung, Friedrich-Ebert-Platz 3. Die Gruppe gibt es seit 1982. Damit dürfte sie eine der ältesten in ganz Deutschland sein. Jeden Freitag findet außerdem von 15 bis 16 Uhr eine Gruppengymnastik im Sankt Josefs-Krankenhaus statt. Informationen gibt es bei Walter Rohrmann unter Telefon
0 62 21/60 28 98.

Der frühere Verwaltungsdirektor des Krankenhauses Speyerer Hof ist selbst kein Betroffener, hat sich dieser Aufgabe aber in seinem Ruhestand verschrieben. „Es ist eine furchtbare Krankheit", sagt Rohrmann. Viele schämen sich, werden menschenscheu, obwohl selbst so prominente Menschen wie der Papst an Parkinson leiden und so eigentlich das Tabu gebrochen werden sollte. Ursache ist ein Mangel an Dopamin. Vereinfacht dargestellt, übermittelt Dopamin Befehle des Nervensystems an die Muskulatur und dieser Botenstoff ist bei den Parkinson-Patienten rar geworden.

Noch gibt es zwar keine endgültige Heilung, aber die medikamentösen Möglichkeiten sind im letzten Jahrzehnt sehr viel besser geworden. Allerdings reagiert nicht jeder Betroffene auf die jeweiligen Medikamente gleich. Hier, so hat Walter Rohrmann immer wieder erlebt, helfen in der Gruppe nicht nur die Vorträge von Ärzten, sondern auch der Erfahrungstausch.

Parkinson, auch Schüttellähmung oder im Fachjargon Paralysis agitans genannt, ist eine neurologische Erkrankung, von der in Deutschland etwa 200000 Männer und Frauen betroffen sind. Die ersten Anzeichen sind meist ein Zittern, auch Tremor genannt, das durch den Willen nicht beeinflusst werden kann. Es beginnt häufig an einer Hand, einem Arm oder einem Bein. Ein weiteres Symptom, die Muskelsteifigkeit - auch Rigor genannt - äußert sich in schmerzhaften Dauerverkrampfungen. Bewegungen können nur mühsam gegen den Widerstand der verkrampften und verspannten Muskeln ausgeführt werden. Die Bewegungen wirken abgehackt und starr. Die Mimik, die ja auch eine Muskelbewegung ist, wird ebenfalls eingeschränkt. Das Antlitz erstarrt zur Maske. Beim Sprechen und Schreiben tauchen oft erhebliche Schwierigkeiten auf. Die Sprache wird monoton und unverständlich. Dazu kommt das vom Patienten nicht zu steuernde Schütteln. Mit den motorischen Symptomen der Krankheit gehen oft auch psychische Veränderungen einher, Depressionen sind nicht selten.

Der bekannteste Parkinson-Patient der Welt dürfte derzeit wohl der Papst Johannes Paul II. sein. Dass er nicht aufgibt, macht auch vielen anderen Betroffenen Mut. Wer rastet, der rostet, das gilt für diese Kranken besonders und deshalb ist Bewegung für sie das Wichtigste. Gisbert Müller könnte hier als Paradebeispiel gelten. „Wenn man es nicht weiß, sieht man es nicht mehr", sagt seine Frau heute. Zwischen damals und heute liegt eine schlimme Zeit und viel Zähnezusammenbeißen.

Nachdem ein Neurologe das L-Dopa-Präparat zunächst um ein Vielfaches überdosiert hatte, ging es Gisbert Müller richtig schlecht. Auf weißen Wänden sah er rote Netze, ihm war so übel, dass er keinen Bissen mehr hinunterbrachte.

Zeitweilig war er ohne Orientierung. Einmal verlief er sich bei Dunkelheit im eigenen Haus. Er wurde so schwach, dass seine Frau um sein Leben fürchtete. Ein Arztwechsel, eine drastische Reduktion der Dosis und ein anderes Medikament ließen all diese schrecklichen Symptome abklingen.

Dass Gisbert Müller auch die Parkinson-Erkrankung zum Stillstand gebracht hat, liegt aber noch an etwas anderem. Zum einen wurde die Krankheit in einem Frühstadium erkannt, zum anderen hat er eine Physiotherapeutin gefunden, die nicht nur die übliche Parkinson-Gymnastik kennt, sondern ihn immer ganz individuell bis ans Limit fordert. Sie hilft ihm, seine Haltung zu stabilisieren, sich auf komplizierte Bewegungsabläufe zu konzentrieren und sein Gleichgewicht zu halten.

Der ehrgeizige Patient machte dabei gewaltige Fortschritte. Die maßgeschneiderte Einzelgymnastik zusätzlich zur Gruppengymnastik ist unabdingbar, lautet sein zuversichtliches Credo und er appelliert an seine Leidensgefährten: „Sagen Sie bloß nicht, mir geht’s schon schlecht, das hat keinen Zweck". Die Krankheit als Herausforderung annehmen, ihr so viel abtrotzen wie möglich, lautet seine Devise. Übrigens: Wasserski fährt er auch wieder.

Kirsten Baumbusch

 

 

 

 

Straßenkinder: Mütter von Straßenkindern machen mobil (RNZ, 31.3.2000)
Wenn Minderjährige sich zum Leben auf der Straße entschließen, leiden 
auch die Eltern Heidelberger Betroffene gründen Selbsthilfegruppe

Wer kennt sie nicht, die Schmuddelkinder der Straße. Bunte Haare, die widerspenstig abstehen, einen Ring durch die Nase und vor Dreck starrende Kleidung. Der Schritt beschleunigt sich fast automatisch, wenn sie provozierend fragen: „Haste mal ne Mark?" Fremd und ein bisschen unheimlich sind sie den Passanten, wie von einem anderen Stern.

Doch so einfach wegwischen lässt sich das Phänomen der Straßenkinder nicht. Denn hinter jedem dieser Jugendlichen steckt nicht nur ein individuelles Schicksal, sondern auch ein Paar oft verzweifelter Eltern. Sabine Leitmüller und Dorothea Fiebig (Namen von der Redaktion geändert) aus Heidelberg sind Mütter solcher Straßenkinder und sie haben sich nun entschlossen, das Tabu zu brechen und eine Selbsthilfegruppe zu gründen.

Noch immer will nämlich kaum jemand glauben, dass es nicht zwangsläufig asoziale Verhältnisse sind, denen diese Kinder entstammen und das nicht zwangsläufig die Eltern daran schuld sind, wenn der Sprößling entgleitet. „Es kann jeden treffen", betont Sabine Leitmüller und Scheuklappen verhindern womöglich, das Abdriften des eigenen Kindes rechtzeitig wahrzunehmen.

Allen betroffenen Müttern und Vätern gemeinsam sind Phasen der Verzweiflung, die Angst, die Hilflosigkeit, die Ohnmacht und manchmal die Wut. Deshalb haben sich die beiden Frauen entschlossen, sich mit anderen Betroffenen zusammenzuschließen. „Eltern von Straßenkindern, oder solchen, die es werden könnten", treffen sich jeden Montag um 20 Uhr im Selbsthilfebüro, Alte Eppelheimer Straße 38, Telefon 18 42 90. Per Internet sind sie unter www.selbsthilfe-info.de zu erreichen.

„Geht Dein Kind unregelmäßig oder gar nicht mehr zur Schule und versucht es, durch Weglaufen Probleme zu lösen. Lebt es zeitweise oder ganz auf der Straße, macht es, was es will und Du hast keinen Einfluss mehr oder ist es schon mit Drogen in Berührung gekommen?" So lauten die Problemfelder, die auch Sabine Leitmüller und Dorothea Fiebig betreffen und wo sie Leidensgenossen nun Unterstützung geben wollen.

„Wir werden nicht wahrgenommen, allenfalls wird mit Fingern auf uns gezeigt", berichten sie von ihren Erfahrungen. Während es für die Kinder ein vielfältiges Netz der Hilfe gibt, das sie annehmen könnten, wenn sie nur wollten, gibt es für die Eltern bislang so gut wie kein Verständnis, geschweige denn Unterstützung. „Wir rennen gegen Wände", sagt Dorothea Fiebig.

Es sind nicht nur die durchwachten Nächte, wenn das minderjährige Kind nicht nach Hause kommt und der ständige Ärger mit der Schulschwänzerei. Partnerschaften und Familien zerbrechen und der Job leidet, wenn die Gedanken nur noch darum kreisen, warum einem dieses, doch so geliebte Kind zu entgleiten droht.

Vielen Eltern von Straßenkindern bleibt schließlich nur ein furchtbarer Schnitt. „Sie haben nur zwei Möglichkeiten", sagte ein Arzt zu Sabine Leitmüller, als sie nach einem Zusammenbruch mehrere Wochen in der Klinik lag, „entweder Sie verharren mit ihrer Tochter in einem Boot, dann gehen Sie irgendwann gemeinsam unter, oder Sie steigen aus und laufen Gefahr, vom Uferrand zuschauen zu müssen, wie Ihr Kind untergeht".

Sabine Leitmüller hat sich zum Aussteigen entschlossen. Doch das Band zwischen Mutter und Kind lässt sich nicht so leicht durchtrennen. „Ich schlafe jeden Abend mit meiner Tochter ein und stehe jeden Morgen mit ihr auf", beschreibt sie dieses Gefühl. Hilflos sieht sie mit an, wie ihr inzwischen volljähriges Kind „Selbstmord auf Raten begeht".

„Lebt sie noch?", das ist auch die Frage, die sich Dorothea Fiebig immer wieder stellt, wenn ihre 15jährige Tochter einmal wieder abgehauen ist und irgendwo in der Republik auf der Straße lebt. Die junge Frau mit dem Strubbelkopf hat das „Boot" noch nicht verlassen, sie paddelt noch, auch wenn sie heute schon fürchtet, dass es vergeblich sein könnte.

Die Gründe, warum junge Menschen auf der Straße landen, sind so unterschiedlich wie das Leben selbst. Ein einschneidendes persönliches Erlebnis wie sexueller Missbrauch, ein furchtbarer Scheidungskrieg, eine instabile Persönlichkeit, der Leistungsdruck in der Schule, Angst vor der Zukunft und irgendwann verknüpft sich das alles zum Wunsch, bloß weg hier.

1500 Kinder leben allein in der Bundeshauptstadt Berlin auf der Straße, im Mannheim sind es rund 250, in Heidelberg dürften es um die fünfzig sein. Gerade einmal zwei Stunden darf die Polizei Minderjährige festhalten, wenn sie sie als Straßenkinder aufgegriffen hat. Dann holen die Eltern sie ab und der Kreislauf beginnt häufig von vorne.

„Zwischen 14 und 18 Jahren ist so eine Grauzone", erklärt Sabine Leitmüller das rechtliche Problem, „da haben die Jugendlichen unheimlich viel Freiheit, aber keine Pflichten". Anders als vor ein paar Jahrzehnten, so ihre Theorie, wird Schuleschwänzen heute allenfalls lax geahndet, Rauchen ist schon bei Zwölfjährigen normal und wem es zu Hause nicht passt, der geht einfach nicht mehr hin und landet schlimmstenfalls in einer betreuten Wohngruppe.

„Egal, was sie machen, es hat keine Konsequenzen", unterstreicht auch Dorothea Fiebig. Verändert habe sich nicht nur die Gesetzeslage, sondern auch die Gesellschaft. Die Schere zwischen Kindern, die alles haben und solchen, die nichts haben, klafft ihrer Ansicht nach immer mehr auseinander.

Schon Grundschüler wissen heute, dass sie kaum Chancen im Leben haben, wenn sie das Gymnasium nicht packen. Wenn dann Bewerbung um Bewerbung geschrieben und trotzdem keine Zukunft in Sicht ist und womöglich noch die Pubertät das Verhältnis zu den Eltern getrübt hat, dann ist die Faszination des abenteuerlichen Straßenlebens ziemlich groß. Und dieser Zug, so wissen die beiden mutigen Frauen, ist dann kaum noch aufzuhalten und mündet nicht selten in der Drogenabhängigkeit und der Obdachlosigkeit. Trotzdem wollen sie nicht aufgeben und haben sich entschlossen, anderen, betroffenen Eltern Mut zu machen und sich mit ihnen zusammenzuschließen.
Kirsten Baumbusch

 

 

 

Telefonseelsorge: Es tut gut, es sich von der Seele zu schreiben

Bei der Telefonseelsorge im Internet ist auch Heidelberg mit von der Partie –
Sieben Ehrenamtliche und mehr als 1600 elektronische Briefe - Von Kirsten Baumbusch

„Es tut gut, es sich von der Seele zu schreiben." Diese Erfahrung machten nicht nur die Literaten vergangener Jahrhunderte, sondern auch ganz viele Internet-Nutzer der Neuzeit. Als sich die Niederlassung Heidelberg der Telefonseelsorge Rhein-Neckar im August 1999 entschloss, auch über dieses neue elektronische Medium die bewährte Krisenintervention anzubieten, hatte keiner mit einem solchen Andrang gerechnet.

Mehr als 1600 elektronische Briefe sind allein im vergangenen Jahr zwischen den acht Beraterinnen und Beratern sowie den Hilfesuchenden hin- und hergegangen. Bundesweit sind es bei den 14 Stellen der Telefonseelsorge sogar 5100 Mail-Kontakte, und das mit rasant steigender Tendenz. Kein Wunder, in Deutschland verfügen zwischenzeitlich mehr als 18 Millionen Menschen über einen Internetanschluss.
Anders als bei den Telefonanrufen erreichen die Heidelberger elektronische Hilferufe aus der ganzen Republik und sogar aus dem Ausland. Das hängt mit der Struktur zusammen. Wer die Adresse beratung@telefonseelsorge.de anwählt, erreicht nämlich die Zentrale, in der die 14 Stellen von Konstanz bis Wolfsburg und Rostock zusammengeschlossen sind. Jede dieser Stellen zeichnet für ein Zeitfenster verantwortlich und übernimmt dann die Ratsuchenden, die in dieser Zeit anfallen.

So ist es möglich, dass alle Anfragen binnen 48 Stunden qualifiziert und inhaltlich fundiert beantwortet werden und jeder davon ausgehen kann, dass seine „Gesprächspartnerin" oder sein „Gesprächspartner" auch alle nachfolgenden Mails beantwortet. Anders als beim Telefonkontakt ist die Internet-Beratung nämlich nicht nur niederschwelliger, sondern auch oft auf längere Zeit hin angelegt. Und es ist gelungen, Menschen anzusprechen, die den Zugang zur „klassischen" Telefonseelsorge wohl kaum gefunden hätten. Wer über E-Mail Rat sucht, ist zumeist unter 30 Jahre alt und lebt allein.

Stark aufgeholt haben die Frauen. Waren sie erst in der Minderzahl, so stellen sie heute zwei Drittel der Ratsuchenden per Internet. Manche von ihnen berichten in der geschützten Umgebung der elektronischen Post an die Telefonseelsorge zum ersten Mal über fürchterliche Misshandlungen oder Vergewaltigungen.
Die Geschäftsführerin der Heidelberger Niederlassung, Ursula Bieber-Buckert, hat schon sehr bald auf das neue Medium gesetzt. Weiß doch die Psychologin nicht zuletzt aus eigener Erfahrung, wie unkompliziert das weltweite Computernetz ist. Sie ist zuversichtlich, dass es so gelingen kann, noch breitere Bevölkerungsschichten in das Angebot einzubeziehen.

Auch die ersten ehrenamtlichen Mitarbeiter beim neuen Service, von denen sieben von Anfang an dabei sind, hatten keine Berührungsängste. Sie kommen aus den verschiedensten Berufen und sind zwischen Anfang 20 und über 70 Jahre alt.
Vielen Menschen fällt es leichter, Gedanken auf den Computerschirm zu schreiben, als sie am Telefon gegenüber einem fremden Menschen auszusprechen. Gleichzeitig tut es gut, die Empfindungen einmal in schriftliche Worte zu kleiden und ihnen damit auch Struktur zu geben.

„Die elektronische Post wechselt in recht rascher zeitlicher Abfolge hin und her", beschreibt Ursula Bieber-Buckert deren Eigenart, oft gibt es eine beträchtliche Diskrepanz zwischen einem lockeren Stil und einem enormen Verzweiflungsgehalt.
„Hallo, ich bin eine 14-jähriges Mädchen aus ...", mit einer solchen Anrede beginnen fast die Hälfte der Anfragen. „Ich wäre sehr froh, wenn ich Antwort bekommen könnte. Mir geht es gerade sehr beschissen, aber ich trau mich nicht anzurufen." Auch das ist ein häufig gelesener Satz. E-Mail gibt nämlich bei aller Direktheit auch die Möglichkeit zur anonymisierten Distanz.

Stark genützt wird dieses Internet-Angebot auch von Jugendlichen, die sich selbst Schmerz zufügen oder drohen, im Strudel „schwarzer" Internet-Kontakte unterzugehen, die sich mit Selbsttötung beschäftigen. Das ist eine richtige Sucht, sich mit Suizid zu beschäftigen, sagt Ursula Bieber-Buckert. Grund für die Todesfaszination ist vermutlich eine große Sinn- und Orientierungslosigkeit der jungen Menschen. Gemeinsam ist allen Ratsuchenden ihr großes Vertrauen gegenüber einer seriösen Institution, die es seit mehr als 45 Jahren gibt. Auch und weil sie sich gerade auf den Weg in die Zukunft gemacht hat.

Stichwort: Telefonfürsorge
Die Internet-Adresse der Telefonfürsorge in Deutschland lautet für Beratungssuchende beratung@telefonseelsorge.de. Wer sich umfassend über die bundesweite Einrichtung informieren möchte, kann dies auf der Homepage unter der Adresse www.telefonseelsorge.de tun. 
Die Telefonnummern lauten 0800-111 0 111 und 0800-111 0 222. Hierüber wird man gebührenfrei mit der regionalen Telefonseelsorge verbunden. Eine dieser Nummern sollte auch wählen, wer sich für die Ausbildung und ehrenamtliche Tätigkeit interessiert.

Kirsten Baumbusch, RNZ vom 26.4.2001

 

Artikel von Kirsten Baumbusch

Selbsthilfegruppen Freiburg und Hochschwarzwald
www.selbsthilfe-freiburg.de

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